Eine Vision: Der Aufbau eines Nervensystems für die Weltwirtschaft
Autor: Hans J. Huber, Product Owner für Trade Finance Research & Development, DLT Lab - Commerzbank AG
Datum: 2021-11-24
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Die derzeit verfügbare Technologie ermöglicht einen künftig vollständig digitalen Welthandel. Um dies zu unterstützen, müssen technische Standards geschaffen und das Regel- und Gesetzeswerk muss international harmonisiert werden. Öffentliche Verwaltungen sollten in demselben Maße in die Digitalisierung investieren wie diejenigen, die den Handel treiben, sowie auch die zahlreichen Dienstleister rund um den Handel. Das Ergebnis sieht vielversprechend aus, doch ein Erfolgsfaktor dabei ist die enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren.
Das Volumen der weltweit produzierten Güter und Dienstleistungen hat sich in den vergangenen 30 Jahren verdoppelt, und der Handel hat sich mehr als verdreifacht. Viele Bereiche von Produktion und Handel wurden bereits digitalisiert, doch mangels eines einheitlichen Ansatzes zum Aufbau digitaler Netzwerke wurden isolierte Systeme errichtet. Dadurch entstanden unzählige „digitale Inseln“. Daten werden weiterhin zwischen den Computersystemen der Teilnehmer als gedruckte Dokumente oder unstrukturierte PDF-Dateien ausgetauscht. Diese Belastung wird durch einen Mangel an Kompatibilität verursacht und muss überwunden werden, wenn man das Potenzial der Digitalisierung vollständig nutzen und erreichen will, dass Prozesse sicherer, verlässlicher, nachhaltiger und günstiger werden. Die Annahme dieser Herausforderung würde auch dabei helfen, kriminelle oder zweifelhafte Geschäftspraktiken zu verhindern, wie handelsbasierte Geldwäsche, Betrug oder Nachhaltigkeitsforderungen, die nur schwer zu verifizieren sind. Sie würde auch dabei helfen, Handelsfinanzierungen für KMUs deutlich zugänglicher zu machen und somit auch dazu beitragen, die sogenannte „Handelsfinanzierungslücke“ zu schließen sowie nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu fördern.
Im selben Zeitraum hat sich in den letzten 30 Jahren die Informations- und Kommunikationstechnologie sehr dynamisch entwickelt. Während Heimcomputer Anfang der 90er Jahre teuer waren und Mobiltelefone als Luxusgüter galten, sind Smartphones heutzutage der weltweite Standard. Fast alle Leistungsparameter dieser tragbaren Computer übertreffen die der Super-Computer der 90er Jahre, und das bei zugleich drastisch verringertem Energieverbrauch. Die Miniaturisierung und Integration von Schaltkreisen ermöglicht es den Sensoren und Aktoren in Netzwerken mit Maschinen und Objekten des täglichen Gebrauchs verbunden zu sein, die wiederum überall erhältlich werden. Dies ist das sogenannte Internet der Dinge (Internet of Things, IoT). Maschinen „sprechen“ miteinander und interagieren auch über Smartphones, sogenannten Wearables oder per Sprachsteuerung mit Menschen. Ein omnipräsentes Computerwesen ist zu einer Realität geworden. Datenverarbeitung kann nun überall stattfinden, jederzeit und zu jedem Zweck!
Noch einmal, im selben Zeitraum haben sich das Internet und Mobilnetzwerke ebenso schnell entwickelt. Während der Schwerpunkt am Beginn der digitalen mobilen Kommunikation noch auf Sprachübermittlung lag, stellt sie nunmehr einen marginalen quantitativen Bereich dar, der weniger als 1% des in den Netzwerken generierten Datenvolumens ausmacht. Datenübertragung dominiert, Verbindungsgeschwindigkeit und monatliche Datenvolumina werden verkauft, und die Gesprächsminute als Abrechnungseinheit ist inzwischen obsolet geworden. Mobile Netzwerke von hoher Qualität sind weltweit in Dienst gestellt worden. Satellitenkonstellationen werden in den Himmel gebracht, die mobile Netzwerke komplementieren werden, um bestehende Verbindungslücken vollständig zu schließen. Jeder Punkt der Erdoberfläche wird mit einer hohen Bandbreite und geringer Latenzzeit vernetzt sein. Produktionsstätten in Deutschland, Kupferminen in Sambia, Containerschiffe mitten im Pazifik und Flugzeuge, die über China fliegen, werden im Ergebnis an einem kontinuierlichen Datenaustausch teilnehmen.
Dieser Datenaustausch, der überall, jederzeit und zu jedem Zweck stattfindet, kann als omnipräsentes Networking bezeichnet werden. Durch die Kombination von omnipräsenter Datenverarbeitung und omnipräsentem Networking werden die Endpunkte menschlicher Interaktion, die in Software modellierten Prozessen möglich werden, überall zugänglich. Auch Interaktionen von Maschine zu Maschine, genauer gesagt zwischen auf ihnen laufenden Software-Prozessen, werden so überall und jederzeit möglich.
Dezentralisierte Unternehmensnetzwerke, DLT, IoT, KI
Das Management des Außenhandels findet innerhalb einer Vielzahl von Systemen statt. Die meisten von ihnen werden in Datenzentren von Teilnehmern und deren Dienstleistern betrieben. In den meisten Fällen werden weiterhin Papier oder Papierersatz mit schlecht strukturierten Daten benutzt, um Daten zwischen Systemen auszutauschen. Eine PDF-Datei ist ein Beispiel für einen solchen Papierersatz. Obwohl diese Datei digital generiert und übertragen wird, ersetzt sie doch oft nur die langsame Versendung per Post und unterstützt nicht ohne Weiteres programmierte durchgängige Prozesse. Auch die Anbieter von sogenannten Enterprise Resource Planning (ERP) Systemen haben diese Herausforderung bisher nur unzureichend angenommen. Obwohl die Datensätze zwischen den ERP-Systemen von Verkäufern und Käufern ausgetauscht werden können, mangelt es in diesem Szenario dennoch an technischen Standards oder „neutralem Boden“. Oftmals ist die Datenübertragung mit einem rechtlichen Hintergrund verbunden. Hierfür sind Zeitmarkierungen in Kombination mit einer rechtsverbindlichen Unterschrift wünschenswert. Die Entwicklung von verteilten Unternehmensnetzwerken, die einen gewissen Grad an Dezentralisierung aufweisen und zwischen ERP-Systemen liegen, können diese Lücke schließen helfen.
In der Zukunft werden dezentralisierte Unternehmensnetzwerke dazu dienen, die meisten komplexen Unternehmensprozesse zwischen Stakeholdern und Dienstleistern zu managen. Geschäftliche Interaktionen im Zusammenhang mit Finanzdienstleistungen, Logistikleistungen, Versicherungen, Zollabfertigungen, Prüfungszertifikaten, der Zertifizierung der Herkunft und anderer erforderlicher Dienstleistungen können mittels dieser verteilten Netzwerke durchgeführt werden. Die dazu erforderlichen Daten werden in diese Netzwerke eingegeben und von diesen abgerufen. Das wird die Wiedereingabe von Daten überflüssig machen, und die Datenqualität wird folglich steigen. Für die meisten Dienstleistungsanbieter in den Lieferketten werden dezentralisierte Netzwerke wohl zum wichtigsten Verkaufspunkt werden.
Im Allgemeinen werden die Netzwerke mittels eines verteilten Kontos unterstützt, das Systemeinträge auf einen auf Konsens beruhenden Nur-Hinzufüge-Modus beschränkt, der auf vorbestimmten, programmierten Regeln basiert. Dies schafft „technisches Vertrauen“ und erlaubt die Automatisierung organisationsübergreifender Geschäftsprozesse mit beispiellosem Umfang. Sogenannte Smart Contracts kodieren die für Geschäftsprozesse vereinbarten Regeln und definierten Abläufe, die über Unternehmensgrenzen hinweg programmiert werden.
Es gibt bereits eine Reihe technischer Standards und Protokolle für den Datenaustausch zwischen verschiedenen Netzwerken, den Back-Office-Systemen von Teilnehmern und den IoT-Datenquellen und -Senken der Umgebung. Andere sind im Design-Stadium und werden derzeit entwickelt. Die durchgehende Nutzung von ISO-Standards und die Einhaltung der Empfehlungen der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (ECE) entwickelt sich zu einem wichtigen Qualitätsmerkmal von Handelssystemen. Die Zertifizierung der Konformität mit dem Standard kann zu einer Dienstleistung werden. Eine weitreichende Durchlässigkeit zwischen den Netzwerken ist das Ziel, und der Ausschluss von Konfigurierungsszenarien kann mittels Standardisierung möglich werden. Ein effizienter Datenzugang erleichtert die Nutzung künstlicher Intelligenz zusammen mit präskriptiver und prädiktiver Analyse. Anwendungsfälle könnten aus Betrugsprävention bestehen, die mühelos Regulierungsanforderungen erfüllen und vielversprechende große Datenanwendungen ermöglichen. Papier als Medium zum Datenaustausch wird als altmodisch gelten und am Ende obsolet werden. Oder gar suspekt sein. Doch wie werden handschriftliche Unterschriften in dieser neuen Welt aussehen? Wie wird ein Datentransfer oder eine datenbasierte Transaktion rechtlich bindend werden?
Digitale Identitäten
Digitale Identitäten für Organisationen, Menschen, Objekte und Software-Prozesse werden als Mittel dazu dienen, Zugangsrechte zu zahlreichen Systemen und Netzwerken sowie zu den Transaktionen zu gestatten, die auf ihnen laufen. Verzeichnisdienste, die heutzutage rollenbasierte Zugangsprivilegien in Software-Systemen vergeben, und die den Zugang zu den Ressourcen und Dienstleistungen von Organisationen regeln, werden schrittweise durch externe Dienstleister für digitale Identitäten ersetzt werden, und somit in die dezentralisierten Bereiche zwischen Unternehmen migrieren. Rollen und Privilegien werden so in programmierbarer und nachvollziehbarer Art und Weise gegenüber der Außenwelt freigelegt werden, und das in ein Gefüge digital erbrachter Dienstleistungen.
Einfach gesagt besteht eine digitale Identität aus einem Identifier (oder vieler) und verschiedenen nachvollziehbaren Berechtigungsnachweisen, die hiermit verbunden sind. Beide Komponenten wurden durch das World Wide Web Consortium (W3C) umfassend standardisiert. Da der Legal Entity Identifier (LEI) das weltweit einmalige Kennzeichen eines Unternehmens darstellt, wird er als Stamm der Identität einer Organisation dienen. Der verifizierbare Legal Identifier wird auch die Änderung der verifizierbaren Berechtigungsnachweise ermöglichen. Einige davon können den Angestellten einer Organisation den Zugang zu Transaktionen in den Systemen Dritter freigeben. Die verifizierbaren Berechtigungsnachweise, mit denen Zugang erlangt oder Tatsachen zertifiziert werden, werden digital von denjenigen unterschrieben, die Zugang gewähren oder etwas zertifizieren. Sie sind somit von den Stakeholdern der jeweiligen Transaktion anhand von Software-Prozessen in programmierbarer Weise verifizierbar. Dies kann damit automatisch stattfinden, und ist zugleich verlässlich und geprüft.
Ein Beispiel aus dem Bereich digitaler Identitäten verdeutlicht dies: Um ein Akkreditiv zu bearbeiten, benötigt eine Bank Zugang zu verschiedenen Unternehmensnetzwerken, in denen der Auftrag, die Handelsrechnung, der Frachtbrief und das Herkunftszertifikat digital aufgezeichnet sind. Die Zugangsrechte zu der jeweiligen Transaktion in diesen Systemen Dritter wird in die digitale Identität der Bank als eine Reihe verifizierbarer Berechtigungsnachweise übertragen, sobald der Käufer im B2B-Netzwerk oder im Netzwerk des Akkreditivs spezifiziert hat, dass die Bank damit beauftragt worden ist, das zur Transaktion gehörende Akkreditiv auszustellen. Die Bank kann dann die Zugangsberechtigung zu diesen Datensätzen an ihre Angestellten delegieren, indem ein dazugehöriger verifizierbarer Berechtigungsnachweis in deren persönliche digitale Identität übertragen wird. Dies gestattet es den Angestellten der Bank oder sogar den autonomen Software-Prozessen der Bank, in deren Namen zu handeln.
Die mithilfe einer digitalen Identität durchgeführte Transaktion greift auf ein X.509-Zertifikat zurück, das Teil einer Vertrauenskette ist, welche beim sogenannten Vertrauensanker endet. Die Autorisierung und Authentizität der hiermit durchgeführten Transaktion ist kryptografisch garantiert und in Deutschland wohl durch das die EU-Verordnung Nr. 910/2014 (eIDAS) umsetzende Gesetz und die zu diesem Zweck erlassenen gesetzlichen Anordnungen geregelt. Entsprechende Regulierungen in nicht-europäischen Rechtsgebieten wären erforderlich und sollten durchgesetzt, geschaffen und erlassen werden.
Netzwerkeffekte schaffen
Ähnliche Fragen zum Thema „gesetzliche Kongruenz“ entstehen, wenn elektronische Einträge für Handelsdokumentationen benutzt werden. Es kann indes kaum Fortschritt erzielt werden, wenn die Nutzung elektronischer Einträge für Frachtbriefe und Ladescheine im exportierenden Land rechtlich zulässig sind, man aber im importierenden Land aus rechtlichen Gründen auf teure und langsame Prozesse zurückgreift, die auf Papier basieren. Die rechtliche Grundlage für Geschäfte in weltweit gespannten Netzwerken sollte standardisiert werden. Im Jahre 2017 schlug die Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) vor, nationale Gesetze anzupassen, siehe ML-ETR, d.h. für eine weltweit harmonisierte Gesetzgebung zur Übertragung von in verhandelbaren Handelsinstrumenten besicherten Eigentumstiteln zu sorgen.
Um Wirklichkeit zu werden, erfordert die Vision eines Internet des Handels zudem erhebliche gemeinsame Anstrengungen auf technischer Ebene. Technische Standards sichern die Kompatibilität und sollten gemeinsam entwickelt und dort reduziert werden, wo verschiedene bestehende Standards mit demselben Zweck miteinander in Konkurrenz stehen. Eine technische Geschäftssprache mit einheitlichem Vokabular sowie gleicher Semantik und Syntax ist wünschenswert, denn sie würde die Verkopplung einer Vielzahl von Systemen und Netzwerken deutlich vereinfachen, günstiger machen und beschleunigen. Ein Beispiel ist das geschäftliche Kernvokabular im EPCIS-Standard von GS1.
Handelspartner und deren Dienstleister, wie Banken, Versicherungen, Logistikdienstleister und Prüfer, sehen sich großen Veränderungen gegenüber gestellt. Diese werden interne IT- und Prozesslandschaften, die Qualifikationen der an Handelsprozessen beteiligten Angestellten sowie die angebotenen Produkte beeinflussen. Öffentliche Verwaltungen und Zollbehörden sollten in diesem Prozess eine führende Rolle spielen und idealerweise weltweit den Weg aufzeigen. Peppol ist hierfür ein europäisches Beispiel.
Der ICC hat die Rolle als globaler Initiator zahlreicher Standardisierungsorgane übernommen, die auf dieses Ziel hinarbeiten. Die ICC Digital Trade Standards Initiative begann 2020 ihre Tätigkeit.
Die Veränderungen werden derart weitreichend sein, dass selbst große Organisationen und Unternehmen allein nicht in der Lage sein werden, etwas zu bewegen. Um ein Netz der Netze aufbauen und das volle Potenzial von Netzwerkeffekten ausschöpfen zu können, müssen alle Parteien in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zusammenarbeiten. Obwohl COVID-19 für viele bedauernswerterweise Elend gebracht hat, hat die Pandemie doch zugleich für eine beispiellose Beschleunigung bei den weltweiten Digitalisierungsanstrengungen gesorgt.
Schlussfolgerung
Der Welthandel wird im Laufe des nächsten Jahrzehnts fast vollständig digitalisiert und vernetzt werden. Isolierte Systeme und auf Papier basierende Dokumentation werden mehr und mehr verdrängt und alsbald als rückständig betrachtet werden. Aus der Konvergenz verschiedener Technologien entsteht ein Nervensystem der Weltwirtschaft, das immer enger zusammenwächst.
Die Fähigkeit, digital am geschäftlichen Handel teilnehmen zu können, wird unabdingbar und erfordert von Unternehmen, neue Prozesse und Fähigkeiten anzunehmen. Öffentliche Verwaltungen sollten die Gelegenheit nutzen und ihre Digitalisierungsanstrengungen schnell voranbringen sowie technische Standards fördern. Eine weltweite Kooperation zwischen einer Vielzahl von Stakeholdern rund um den Handel ist erforderlich.
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Hans J. Huber ist der Product Owner für Trade Finance Research & Development beim DLT Lab der Commerzbank AG. Er hat mehr als 25 Jahre in internationalen Teams an der Schnittstelle zwischen IT und themenbezogenen Abteilungen gearbeitet und verfügt über Erfahrung in den Bereichen Logistik, Marketing und dem Finanzsektor. Hans war eine treibende Kraft bei der Etablierung der Digital Trade Standards Initiative (DSI) der Internationalen Handelskammer (ICC), der Normierungsorganisation für den Handel bei der ICC.